Der Common Ground, der kleinste gemeinsame Nenner, den es für einen halbwegs funktionierenden gesellschaftlichen Diskurs jedoch braucht, bröckelt noch an anderer Stelle. Heutzutage funktionieren die Empfehlungsalgorithmen anders als noch vor wenigen Jahren. Es geht nicht mehr darum, ohnehin schon populäre Inhalte weiter zu verstärken, die sich dann zu einem viralen und globalen Phänomen auswachsen. Stattdessen werden Nischen bis auf Mikroebene identifiziert. Die Tiktok-Versionen von zwei unterschiedlichen Menschen werden nie die gleichen sein, und durch die zunehmende Nutzung der Plattform bedeutet das auch, dass es kein gemeinsames Internet mehr geben wird. […]
Als Vapor Web, ein sich verflüchtigendes Internet, bezeichnen Experten dieses Phänomen. Das Paradoxe daran: Im Vapor Web finden nicht weniger Konversationen und Austausch statt, sondern wahrscheinlich mehr als je zuvor. Doch ein Merkmal dieses fragmentierten Internets ist, dass zwar so viele Inhalte wie nie konsumiert werden, deren Popularität aber so gut wie nicht mehr quantifizierbar ist. Obwohl man noch nie derart vernetzt war, leben wir in einer Welt, in der es sehr leicht ist, sich nicht über die Dinge, die andere Menschen bewegen, bewusst zu sein. Im Umkehrschluss ist es auch einfacher geworden, Informationen oder Trends, die sich zwar populär anfühlen, aber in Wirklichkeit begrenzt sind, eine übergroße Bedeutung beizumessen.
Die Vorstellung einer Kultur des Internets, auf die sich alle einigen können, war zwar schon immer eine Illusion. Doch früher befürchteten Medienforscher nur sogenannte Filterblasen, in denen die Menschen anhand ihrer Weltanschauung eingepfercht werden. Heutzutage umschließt die Blase nicht mehr gesellschaftliche Kohorten. Sondern jeden einzelnen für sich.
Michael Moorstedt, sueddeutsche.de, 14.01.2024 (online)