Journalisten müssen unberechenbar sein. Die Chats haben bewiesen, dass man an dieser Aufgabe spektakulär scheitern kann. Worauf es ankommt in diesem schönen, schwierigen Beruf.
Journalisten müssen verlässlich unberechenbar und berechenbar unverlässlich sein. Ihre strukturelle Unverfügbarkeit, ja: Unbrauchbarkeit als Werkzeug der Macht ist ihre wichtigste Geschäftsgrundlage. So einfach und so kompliziert ist dieser Beruf.
Einfach ist er deshalb, weil für das Erfüllen dieses Anspruchs keine gesonderte Ermahnung, Belehrung, Beschwörung und auch kein Verhaltens- oder Ehrenkodex notwendig ist. Oder sein sollte. In der Theorie – wenn auch offenbar nicht in der Praxis – sollte es genügen, die eigene Rolle zu kennen. Und im Übrigen ein halbwegs anständiger Mensch zu sein.
Zum festen Rahmen des Berufs gehört freilich auch der Umstand, dass Machthaber aller Art von den Journalisten allerlei wollen, nur eines nahezu nie: dass sie ihren Pflichten im Sinne des Publikums nachkommen. Verführung, Verleitung, Vereinnahmung, versuchter Gebrauch und unbefugte Inbesitznahme von Journalisten zählen zum Grundwerkzeug der Machtausübung.
Denn letztlich ist der Zugang zur Öffentlichkeit – und damit der Journalismus – selbst ein Machtfaktor. Der öffentliche Austausch prägt unsere Sicht auf Gesellschaft, Welt und Zeit. Mächtig ist, wer Deutungshoheit über wichtige Themen erlangt und dadurch erreicht, dass die von ihm verfügten Spielregeln und Handlungsgebote allgemein akzeptiert werden.
Objektivität ist zwar eine dauernd beschworene Projektion, aber das Bewusstsein für saubere Konflikt- und Debattenkultur ist in weiten Landstrichen schwach ausgeprägt. In den Augen vieler Taktgeber des öffentlichen Lebens ist man vor allem dann objektiv, wenn man sich als zweckdienlich erweist. Nicht um sachgerechtes Vermitteln und kritisches Begleiten geht es, sondern um „wohlwollende Berichterstattung“. Darum wird häufig in Medienterminen gebeten. Manchmal wirkt es, als flehten Delinquenten um ein mildes Urteil, im Wissen um ihre Delinquenz.
Im medialen Berufsalltag ist die versuchte Beeinflussung daher nicht Ausnahme, sondern Regel.
Ernst Sittinger, kleinezeitung.at, 12.11.2022 (online)