Zitiert: Wut und Weltbild – Drei Mythen über Polarisierung in Deutschland

Polarisierung. Kaum ein Konzept wurde in letzter Zeit häufiger als Erklärung für den Zustand der deutschen Gesellschaft verwendet. In der Tat ist Polarisierung ein starkes Narrativ. Doch starke Narrative verleiten oftmals zur Verallgemeinerung. Im Folgenden werden drei weitverbreitete Mythen über Polarisierung in Deutschland betrachtet, Fehlannahmen herausgearbeitet und drei Lösungsansätze für ein besseres Vorgehen vorgestellt. … Studien zeigen, dass Deutschland derzeit weniger polarisiert ist, als die mediale Lautstärke vermuten lässt. In Deutschland konnte man die Situation der Parteien vor der Bundestagswahl kaum als polarisiert charakterisieren. … Zudem zeigt eine Studie von More in Common (2019) mit 4000 Teilnehmenden, dass sich die deutsche Gesellschaft nicht in zwei Pole, sondern drei Lager aufteilt: die gesellschaftlichen Pole, die Unsichtbaren und die Stabilisatoren. Innerhalb des Drittels der gesellschaftlichen Pole stehen sich zwei Gruppen unversöhnlich gegenüber. Zum einen gibt es „die Wütenden“, die das System ablehnen und Eliten misstrauen. Zum anderen finden sich „die Offenen“, die Weltoffenheit, Kompromissbereitschaft und politischen Austausch predigen. …

Das, was die deutsche Gesellschaft momentan erlebt, ist weniger eine gesamtgesellschaftliche Polarisierung, sondern eine immer personalisiertere Auseinandersetzung, bei der ein kleiner Teil der Bevölkerung (politische Eliten und Meinungsmacher) von einem ebenfalls nicht repräsentativen Teil der Bevölkerung (wütende Online-Trolle) mit Hass und Hetze überzogen werden – was sich wiederum auf die breite Debattenkultur auswirkt. …

Das Gesamtbild in Deutschland ist komplexer als eine einfache Aufspaltung der Gesellschaft in zwei Lager. …

Die Unsichtbaren sichtbar machen: Die meiste Aufmerksamkeit erhalten momentan diejenigen, die am lautesten schreien. Stattdessen müssen wir Möglichkeiten schaffen, besonders denjenigen Gehör zu verschaffen, die am Anfang als die „Unsichtbaren“ beschrieben wurden. Politik, Medien sowie politische und soziale Stiftungen können hier also einen wichtigen Teil dazu beitragen, die „Unsichtbaren“ und ihre Sorgen, Nöte und Meinungen stärker in den gesellschaftlichen Diskurs einzubinden.

Paula Köhler, tagesspiegel.de, 21.11.2021 (online)

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Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)