Im vergangenen Jahr habt die Hälfte aller Demokratien Wahlen abgehalten, und jede einzelne davon hat ihre jeweilige Gesellschaft noch weiter polarisiert. Es gab keine einzige Wahl, bei der die Regierungspartei all ihre Sitze behalten konnte. Und die Zugewinne gingen meist nicht an die traditionellen Oppositionsparteien, sondern an Randgruppen, meist an die extreme Rechte. Deshalb ist es, glaube ich, sinnvoll, wenn ich herumfliege und vom Taiwan-Modell erzähle. […] 2014 sagten bei uns nur neun Prozent, dass sie den staatlichen Institutionen vertrauen, 2020 waren es dann über 70 Prozent. Um das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen, muss umgekehrt erst mal die Regierung den Menschen radikal vertrauen, so einfach ist das. Und mit Vertrauen in die Menschen meinen wir konkret, dass wir die Menschen selbst die nationale Agenda festlegen lassen. Also haben wir eine digitale Bürgerbeteiligungsplattform ins Leben gerufen, damit junge Menschen beispielsweise sagen können: „Lasst uns eine Stunde später zur Schule gehen, denn wenn wir ausgeschlafen sind, schreiben wir bessere Noten.“ […]
Entscheidend ist, dass wir einen „Brückenbonus“ anbieten: Menschen, die Ideen entwickeln, die beide Seiten ansprechen, werden belohnt. Wir haben den Anreiz für virale Verbreitung also von Empörung zu Konsens umgelenkt.
Audrey Tang, sueddeutsche.de, 16.10.2025 (online)

