Zitiert: Wählerwanderungen

Thomas Wind weist in seiner Studie „Demoskopie, Medien und Politik“ für die Otto-Brenner-Stiftung (S. 37 ff., 19.10.2018) auf Folgendes hin

„Der Erklärungsbedarf, warum eine Wahl so oder so ausgegangen ist, ist kurz nach der Verkündung der Ergebnistendenzen enorm hoch. Da sind die einfachen Bilder der Wählerströme willkommen. Heruntergebrochen auf einige soziodemografische Kriterien wie Alter, Geschlecht, Berufsgruppen, Wohnort, kann auf Basis der Zahlen die schnelle Analyse erfolgen. Beispielsweise, welche Partei von welchen anderen Zulauf erhalten hat bzw. Verluste hinnehmen musste, ob eine Partei eher bei den Jungen oder den Älteren, eher bei Frauen oder Männern, eher bei der Stadt- oder Landbevölkerung gepunktet oder Stimmen eingebüßt hat. Zusätzlich werden die Nichtwähler als „Partei“ ausgewiesen, und man kann sehen, welche Partei im Nichtwählerlager besonders mobilisierend gewirkt hat. Die Wanderungsströme werden in absoluten Zahlen ausgewiesen. Das suggeriert Präzision und Verlässlichkeit. Auch Schlagzeilen sind auf dieser Grundlage schnell getextet: „CDU besonders attraktiv für Wähler jenseits der 60“ oder „SPD punktet bei Arbeitern, Linke bei Akademikern“.“

MDRaktuell titelt „AfD holt viele Stimmen von Nichtwählern und der CDU“ und berichtet unter Verweis auf infratest dimap am 2. September 2019:

„Die CDU erzielte bei der Landtagswahl 2019 in Sachsen laut vorläufigem Ergebnis 32,1 Prozent und lag damit 7,3 Punkte unter ihrem Ergebnis von 2014. Dennoch konnte sie sich als stärkste Kraft behaupten und holte wegen der höheren Wahlbeteiligung sogar mehr Stimmen als vor fünf Jahren. Neue CDU-Wähler rekrutierten sich vor allem aus der großen Zahl der Nichtwähler 2014 – 162.000. 34.000 kamen vom Koalitionspartner SPD. Nach Daten von infratest-dimap verlor die CDU etwa 84.000 Wähler an die AfD. 61.000 CDU-Wähler von 2014 starben inzwischen, 23.000 wurden zu Nichtwählern.

Die AfD (27,5 Prozent) konnte vor allem Nichtwähler mobilisieren: 246.000 stimmten diesmal für die Rechtsaußen. Außerdem wechselten etwa 84.000 damalige CDU-Anhänger zur AfD, je 38.000 kamen von kleineren Parteien oder zogen nach Sachsen, 27.000 AfD-Stimmen kamen von ehemaligen Linke-Anhängern. Der Schwund war bei der AfD relativ gering. 11.000 Anhänger verstarben in den vergangen fünf Jahren, 8.000 zogen weg, 3.000 wählten diesmal die CDU.“

Thomas Wind führt weiter aus:

„Die Kritik an diesem Analysetool setzt bei den verwendeten Daten an. Sie stammen aus den Exit-Polls: In zufällig ausgewählten Stimmbezirken werden zufällig ausgewählte Wählerinnen und Wähler beim Verlassen des Wahllokals nach ihrem Wahlverhalten jetzt und bei der letzten Wahl befragt. Insbesondere die Recall-Frage („Welcher Partei haben Sie bei der letzten Wahl Ihre Stimme gegeben?“) erscheint problematisch, denn es ist davon auszugehen, dass sich ein Teil der Befragten einfach nicht mehr erinnern kann, wo er bei der letzten Wahl sein Kreuz gemacht hat. Um überhaupt etwas zu sagen, wird dann tendenziell häufiger die Partei genannt, die man gerade gewählt hat. Damit wird der Anteil der Wechselwähler systematisch unterschätzt. Und bei denjenigen, die sich bei der vorigen Wahl der Stimme enthalten haben, besteht im Sinne sozialer Erwünschtheit die Tendenz, sich eben nicht als vormalige Nichtwähler zu outen, sondern eine Partei zu nennen. Um das frühere Wahlverhalten jetziger Nichtwähler berücksichtigen zu können, wird kurz vor der Wahl eine Stichprobe aus der Gruppe bekennender Nichtwähler dazu befragt. Auch hierbei droht Verwechselungsgefahr, wenn man bedenkt, dass neben Bundestagswahlen, auch Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen zu erinnern sind. Außerdem wird das frühere Wahlverhalten nicht mehr Stimmberechtigter (zum Beispiel Verstorbene, Abgewanderte) kalkuliert und verrechnet. Dabei müssen Gewichtungen und Korrekturen vorgenommen werden.

All das deutet darauf hin, dass das gesamte Verfahren fehleranfällig ist. Weil die Methodenprobleme jedoch unter dem Tisch bleiben und sich zumindest die Demoskopen von Infratest dimap gegenüber ihrem Kunden ARD verpflichtet fühlen, werden die bunten Flussdiagramme bis heute nach Wahlen angefertigt und publiziert. Auch die Parteien nutzen die Wählerwanderungen gerne als Grundlage für ihre Wahlanalysen und ziehen daraus gegebenenfalls strategische Konsequenzen für die Zukunft, ohne zu realisieren, auf welch unsicherem Terrain sie sich damit bewegen.

Dabei gibt es eine methodische Alternative der Wählerstromanalyse. Allerdings ist sie nicht so schnell verfügbar, weil sie nicht auf Umfragedaten, sondern auf die amtlichen Ergebnisse der Stimmbezirke zurückgreift. Auf die gesammelten Daten werden spezielle statistische Analyseverfahren („multiple Regression“) angewendet. Die aktuellen Ergebnisse werden dann auf die der letzten Wahl bezogen. Diese Methode hat deutliche Vorteile, weil sie auf der Auswertung tatsächlichen Wahlverhaltens beruht.

Allerdings ist sie auch mit Unsicherheiten behaftet, vor allem was die Wählerströme hin zu und weg von kleineren Parteien angeht.

Grundsätzlich fällt im Zusammenhang mit den Nach-Wahlanalysen der Parteien auf, dass hier zum großen Teil dieselben Institute mitwirken, die auch die Medien beliefern. Es liegt nahe, zu vermuten, dass dadurch der kritische Blick auf die Daten getrübt ist. Häufig fehlt auch das Korrektiv in den Parteizentralen, weil die notwendige fachlich-methodische Kompetenz eher ab- als aufgebaut wurde. Führende Politiker sind leicht empfänglich für einfache Erklärungen der Wahlergebnisse. Wählerwanderungen sind da eine beliebte Quelle. Und wenn sich einmal eine einfache Erklärung durchgesetzt hat, ist sie nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen.“

Zur Studie „Demoskopie, Medien und Politik“ der Otto-Brenner-Stiftung

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