Zitiert: Ohne kulturelle Aneignung entsteht keine Kunst

Wenn dieser Tage immer mal wieder über Konzerte berichtet wird, die abgebrochen wurden oder nicht zustande kamen, weil jemand das Motiv einer kulturellen Aneignung aufgespürt und skandalisiert hat, ist das zuallererst das Problem einer verunsicherten Umgebung, die eine Störung nicht als Störung betrachtet, sondern sie als berechtigtes Anliegen adelt. In der medialen Öffentlichkeit überragt leider die Lust an der Empörung, hinter der die Auseinandersetzung mit der künstlerischen Darbietung bis zu deren Unkenntlichkeit verschwindet. Längst ist die sogenannte Cancel Culture nicht nur ein Phänomen derer, die auf gesellschaftliche Diversität pochen und dabei übersehen, dass sehr ihre Beharrlichkeit selbst rassistische Züge anzunehmen droht. Die Hoffnung auf eine Art diskursive Gelassenheit mag naiv sein, kann vorübergehend aber dazu beitragen, die Nerven zu schonen.

Wenn abwechselnd die Heroen einer überwiegend weißen Kunst- und Kulturgeschichte von Kant bis Elvis Presley verdächtigt werden, rassistische Haltungen gehegt oder geäußert zu haben, dann ist das kein Grund, gereizt die aufklärerischen Instrumente aus dem Fenster zu werfen. Kunst und Philosophie beziehen ihre Lebendigkeit aus Kontextualisierung, Neubewertung und Wiederaneignung. Das Motiv, das hinter dem inzwischen inflationär zirkulierenden Vorwurf der kulturellen Aneignung steckt, ist nicht verwerflich. Es geht um die Sensibilisierung für das weite Feld menschlicher Begegnungen und den wechselseitigen Respekt, den das erfordert. Die Geschichten, die daraus hervorgehen können, sind nicht zuletzt Quellen für Kunst und Kreativität. Die Geschichte von Blue Note Records ist das industrielle Produkt einer kulturellen Aneignung und viel mehr als das handelt sie von der Kraft sozialer Empathie.

Harry Nutt, Berliner Zeitung, 28.7.2022 (online)

Kommentar verfassen

Onlinefilm.org

Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
Out of Space
Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)