Wenn Menschen in Deutschland angeben, sie trauten sich nicht mehr, ihre Meinung zu sagen, dann kommt von links oft die Gegenfrage: Geht es nicht eigentlich nur darum, dass du keinen Widerspruch möchtest? Von rechts wiederum wird das Gefühl verstärkt, dass so etwas in Deutschland nicht mehr gehe – allerdings nicht, weil man dann festgenommen wird, sondern weil man geächtet, mit hässlichen Etiketten versehen wird und es sich anfühlt wie: Sie sind moralisch verhaftet.
Ganz schwieriges Gebiet also, um darüber zu diskutieren, denn mit der einen Position rutscht man schnell in die Opferrolle der Menschen, die es sich im Wir-Gefühl der vermeintlich Unterdrückten gemütlich gemacht haben. Mit der anderen besteht die Gefahr, die Wahrnehmung sehr vieler Menschen herunterzuspielen oder als illegitim abzuwerten. […]
Eine Aussage wird nicht mehr inhaltlich diskutiert, sondern mit einem Etikett versehen – und damit erledigt. Wer diese Etiketten verteilt, hat Einfluss. Wer darüber bestimmt, welche Position „politisch korrekt“ ist, oder welche Meinung durch einen „Faktencheck“ diskreditiert wird, bestimmt die Spielregeln der Debatte – und damit einen Teil der politischen Wirklichkeit.
Hier ist die Frage: Wäre das dann sozusagen Machtausübung von oben? Oder ist es nach einem anderen Verständnis ein Angriff auf die bestehenden Machtverhältnisse – also auf den noch immer bedeutenden Teil der politischen Wirklichkeit, der früher die alleinige Deutungsmacht hatte?
Am Ende bleibt die Frage: Wie viel Macht hat die Moralkeule?
Ralf Heimann, MDR Altpapier, 12.06.2025 (online)