Zitiert: Führt Achtsamkeit zu Zensur in der wissenschaftlichen Ausbildung

An der Filmakademie halte ich seit vielen Jahren zu Beginn des Studienjahres ein Seminar zum Thema „Bilder lesen“. Anhand exemplarischer Fotografien werden Bildsprachen analysiert und Möglichkeiten bzw. Wirkungen visueller Dramaturgien hinterfragt. Zu den gezeigten Bildern gehört auch eine Fotografie des vietnamesischen Fotografen Nick Ut. Zwölf Bildreporter beobachten am 8. Juni 1972 von einer Landstraße aus einen Napalm-Angriff der US-Streitkräfte auf das südvietnamesische Dorf Trang Bang, in dem sich angeblich nordvietnamesische Soldaten verschanzt hatten. Unvorhergesehen kommt den Fotografen eine Gruppe südvietnamesischer Soldaten und fliehender Dorfbewohner*innen entgegen, unter ihnen vor allem Kinder. Sofort augenfällig ist das Mädchen Kim Phúg, das schreiend, mit ausgebreiteten Armen und völlig nackt direkt auf die Fotografen zuläuft. Nick Uts reaktionsschnelle, analoge Fotografie der Situation schafft es bereits am Folgetag auf die Titelseite der New York Post, später erhält er für seinen dramatischen Schnappschuss den Pulitzer Preis. Das Foto ist bis heute in seiner zutiefst authentischen Kollision von kindlicher Unschuld und Nacktheit mit militärischer Gewalt eine Ikone der Kriegsfotografie und war in den USA Mitauslöser für die beginnenden Massenproteste gegen Amerikas Vietnamkrieg.

Auch die Studierenden (er)kennen dieses Bild, es ist in ihrem visuellen Gedächtnis abgespeichert, obwohl die meisten nicht wissen, warum das so ist und wie sie die Fotografie inhaltlich und historisch einordnen sollen. Der Diskurs im Seminar hat seit jeher die Aufgabe, genau das zu erhellen. Doch während sich in früheren Jahren darüber eine Diskussion entspann, an deren Ende alle darüber einig waren, dass Krieg niemals ein Mittel zur Lösung politischer Konflikte sein darf, geht der Diskurs zu diesem Foto heute in eine andere Richtung. Sei das Bild, so einzelne Teilnehmende, nicht in erster Linie sexistisch, zumal es von einem Mann fotografiert wurde? Andere stellen in den Raum, ob es sich hierbei nicht um eine (nach)gestellte, inszenierte Szene handeln könnte? Auch werden Stimmen laut, die zukünftig vor dem Betrachten solch gewalttätiger und sexistischer Bild-Inhalte eine „Triggerwarnung“ fordern, weil sie oder andere sonst womöglich durch das unvorbereitete Ansehen retraumatisiert werden könnten. Einer fordert vehement, dass solche Seminare eine psychologische Begleitung bräuchten und die Akademie eine ärztliche Versorgung vor Ort zu gewährleisten habe, falls eine akute Retraumatisierung dies erfordere.

Der Tonfall Einzelner wird bei meiner Aufforderung, das Bild doch zuerst einmal historisch einzuordnen, durchaus aggressiv. Und während die große Mehrheit der Studierenden schweigt, wird dem Diskursleiter von den Wortführer*innen höflich, aber bestimmt nahegelegt, die typische Weltsicht und Macht weißer männlicher Bourgeoisie zu vertreten. Ich fühle mich in diesem Moment unverstanden und habe trotz meiner ganzen Lebens- und Lehrerfahrung spontan keine Idee, wie eine weitere Verhärtung und Destruktion der Debatte zu verhindern sei.

Thomas Schadt, filmakademie.de, Februar 2022 (online)

Kommentar verfassen

Onlinefilm.org

Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
Out of Space
Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)